martedì 30 dicembre 2014

"Lieber Baba, hilf uns schnell!"

Der katholische Priester Abba Mussie Zerai ist Eritreer und lebt in der Schweiz – seine Telefonnummer ist die letzte Hoffnung für viele Flüchtlinge auf dem Mittelmeer. http://www.badische-zeitung.de/ausland-1/lieber-baba-hilf-uns-schnell--97974117.html

  1. Viele Afrikaner stranden auf der italienischen Insel Lampedusa, andere hingegen überleben die Reise nicht. Foto: dpa/Frenzel
  2. Immer am Telefon: der Priester Abba Mussie Zerai Foto: Veronica Frenzel
  3. Viele Afrikaner stranden auf der italienischen Insel Lampedusa, andere hingegen überleben die Reise nicht. Foto: dpa/Frenzel
Die SMS leuchtet grün auf dem Telefondisplay, auf Englisch: "Lieber Baba, hilf uns schnell. Wir haben kein Essen, kein Wasser, und der Handyakku ist fast leer." Mussie Zerai wischt sie weg. "35,47/ 16,67, 35. Breitengrad, 16. Längengrad", erklärt er. "Mittelmeer, zwischen Libyen, Malta und Sizilien." Die Nachricht hat ihm am 2. Oktober ein Eritreer geschickt, aus dem Mittelmeer, irgendwo zwischen Libyen, Malta, Sizilien. Ein Bootsflüchtling auf dem Weg nach Europa. Zerai hat die GPS-Daten gleich weitergeschickt, an die Seenotrettung, an die Küstenwachen. Jetzt schaut er auf die Nachricht, eine tiefe Falte teilt seine Stirn. "Wenn ein Boot noch in libyschen Gewässern ist, fühlen sich Italien und Malta nicht verantwortlich. Dann müssen andere helfen." Andere, wie die libysche Küstenwache, von der er weiß, dass sie Migranten nicht gut behandelt.

Der Eritreer ist einer von Tausenden, die in den vergangenen zehn Jahren bei Abba Mussie Zerai Hilfe gesucht haben. Auch er selbst stammt aus Eritrea, ist katholischer Priester und arbeitet derzeit in einer Gemeinde bei Aarau, in der deutschsprachigen Schweiz. Er ist ein kleiner Mann von 39 Jahren; er sieht älter aus. Die Haare sind grau meliert, es sind nicht mehr viele, um die Augen haben sich Falten eingegraben.
Seine Telefonnummer ist seit dem Sommer 2004 so etwas wie die letzte Hoffnung für Bootsflüchtlinge. Sie kursiert unter den Migranten aus Eritrea, Somalia und Äthiopien. Sie steht an Wänden von Flüchtlingslagern in Libyen und an Decks von Flüchtlingsbooten. Jemand hatte die Nummer auch ans Deck des Boots geschrieben, das am 3. Oktober 2013 vor Lampedusa sank. So erzählte es ein Überlebender des Unglücks, bei dem unmittelbar vor der Insel 366 Menschen ertranken. Der Mann sagte auch, dass er und die anderen Passagiere fest daran glaubten, Mussie Zerai könne ein Rettungsboot schicken, egal, wo sie seien. Das Schiff sank dann aber so schnell, dass niemand mehr Zeit hatte, anzurufen. Die Küstenwache in Italien schätzt, dass er schon 6000 Menschen das Leben gerettet hat, mindestens. Zerais Telefonrechnungen betragen umgerechnet manchmal mehrere Tausend Euro im Monat. Um sie bezahlen zu können, gründete er vor acht Jahren die Hilfsorganisation Agenzia Habeshia. Zunächst nutzte er die Organisation tatsächlich nur, um Spenden für die Telefonkosten zu sammeln. "Aber irgendwann merkte ich, dass ich nicht nur die kleinen Feuer löschen kann, sondern dass ich den ganzen Brand löschen muss."

Er begann, mit seiner Organisation Lobbyarbeit für die Bootsflüchtlinge zu machen. Seitdem geht er ins italienische Fernsehen, wenn ein Schiff in Seenot nicht gerettet wurde, spricht im Radio, schickt E-Mails an Journalisten, Politiker und Flüchtlingshilfsorganisationen. Auch mit dem Netzwerk "Watch The Med", das versucht, Schiffsunglücke zu rekonstruieren, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, arbeitet er zusammen. Vor zwei Wochen haben die Aktivisten eine zweite Notrufnummer für Bootsflüchtlinge eingerichtet, das "Alarm Phone", rund um die Uhr sitzen in ganz Europa Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, vor den Apparaten, auch ehemalige Bootsflüchtlinge. "Zerai hat den Friedensnobelpreis verdient", sagt ein Mitarbeiter von "Watch The Med".

Bevor Mussie Zerai am 2. Oktober die zwei Nachrichten bekam, erhielt er einen Anruf. Es war neun Uhr abends, er war auf Lampedusa zum Jahrestag des Schiffunglücks vom 3. Oktober 2013, mit Überlebenden saß er beim Abendessen. Aufgeregt erklärte ihm ein Mann am Telefon, er sei mitten auf dem Meer, mit Hundert anderen, der Motor des Boots springe nicht mehr an. Mussie Zerai erklärte ihm, wie er die Positionsdaten des Schlauchboots aus dem Satellitentelefon, das ihm der Schlepper geliehen hatte, lesen konnte. "Schick mir die Angaben per SMS", sagte er. Und: "Ich helfe euch. Aber es kann ein wenig dauern, bis Rettung kommt." Es sind die beiden Sätze, die er immer sagt, bevor er auflegt.

Die Daten schickte er dann per Mail an die Einsatzleitung der Küstenwachen von Italien und Malta, an die italienische Seenotrettung. Er übermittelte die Daten auch an ein italienisch-amerikanisches Ehepaar, das seit dem Sommer von Malta aus mit einem 40 Meter langen Motorboot Schiffbrüchigen hilft. Schon in wenigen Wochen hat das Paar mehr als 2000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet.

Von dem Eritreer hat Zerai danach nichts mehr gehört, auch von den Rettungskräften hat er keine Nachricht bekommen. Er weiß nicht, ob er und die anderen Flüchtlinge gerettet wurden, ob sie es nach Europa geschafft haben, ob sie nach Libyen gebracht wurden. "Wenn ich nichts mehr höre, ist meistens alles gut gegangen", sagt Zerai, den alle nur Father Mussie nennen. Manchmal passiere es, dass sich ein Flüchtling bei ihm bedankt. "Aber ich erwarte keinen Dank", schiebt er schnell hinterher.

Mussie Zerai sitzt im Foyer des Kongresszentrums der Vereinten Nationen in Genf. Er trägt eine schwarze Hose, ein schwarzes Hemd und das Kollar, den weißen Kragen der Priester. Gleich hält er auf einer Tagung einen Vortag vor NGO-, UN-Mitarbeitern, Politikern, es geht um Migration und Familie. "Lobbyarbeit", sagt er. Am Tag zuvor hat er auf Lampedusa noch mit Politikern gesprochen, auch mit Martin Schulz, dem deutschen Präsidenten des EU-Parlaments.

"Wenn ich mit Politikern rede, fordere ich immer dasselbe", sagt er, "einen Vier-Stufen-Plan": Langfristig soll die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessert werden, keiner soll mehr sein Land verlassen müssen. Mittelfristig sollen die afrikanischen Nachbarländer der Krisen- und Kriegsregionen die Flüchtlinge versorgen, ihnen Chancen geben. Kurzfristig soll es legale Fluchtwege nach Europa geben, schon in Afrika soll man Asyl beantragen können, nicht erst in Europa. Und sofort soll mehr in die Rettung von Flüchtlingen in Seenot investiert werden und weniger in Abschottung.

Für Zerai steht Frontex, die europäische Grenzschutz-Agentur, die unlängst zehn Jahre alt geworden ist, für diese Politik der Abschottung – und für den Tod von Tausenden Menschen. Dass im November Frontex Plus gestartet ist, dass es von dann an auch Aufgabe der europäischen Grenzschützer sein soll, Flüchtlinge in Seenot zu retten, ändert nichts an seiner Meinung. "Politiker reden, reden, reden", sagt Mussie Zerai und hämmert mit dem gekrümmten, linken Zeigefinger in die Luft. "Aber meistens haben sie schon nach ein paar Wochen wieder vergessen, was sie gesagt haben. Europa schottet sich weiter ab, anstatt etwas für die Flüchtlinge zu tun." Immerhin, eins habe sich schon zum Besseren geändert: "Seit Beginn von Mare Nostrum" – jener Operation der italienischen Marine und der Küstenwache, die nach dem 3. Oktober 2013 beschlossen wurde, um Flüchtlinge in Seenot zu retten, und die "Frontex Plus" Ende des Monats ersetzen soll, allerdings mit weniger Geld und weniger Schiffen – "hat die italienische Küstenwache immer reagiert, wenn ich sie um Hilfe bat." Das war früher nicht so.

Zerai kam vor 23 Jahren aus Eritrea nach Italien, im Flugzeug und mit einem Visum. Der Bischof der eritreischen Hauptstadt Asmara hatte ihn geschickt. Zerai lernte am Hauptbahnhof von Rom einen britischen Priester kennen, der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen half, Asyl zu beantragen. Die ersten vier Jahre in Italien übersetzte er für den britischen Priester, arbeitete als Zeitungsausträger und als Verkäufer an einem Obststand, er ging aus, genoss die Freiheiten, die er aus seiner Heimat nicht kannte. Dann lernte er die Scalabrini-Missionare kennen, eine Kongregation, die sich für Immigranten einsetzt. "Als ich im Fernsehen das erste Mal von den Scalibrini erfuhr, war das für mich wie eine Erleuchtung", sagt Zerai heute. Drei Jahre lang studierte er in Piacenza, der Heimatstadt des Gründers der Scalabrini. Anschließend verbrachte er sieben Jahre lang in Rom in einer Scalabrini-Mission. 2010 kam er dann in die Schweiz.

In seinem ersten Jahr in Rom lernte er Afrikaner kennen, die in verlassenen Fabriken und Slums lebten, keine Aufenthaltserlaubnis hatten und kaum Arbeit. Zerai wollte helfen, organisierte in Rom Demonstrationen, forderte in Brüssel eine menschlichere Flüchtlingspolitik. Als er im Jahr 2004 das erste und bisher letzte Mal nach Eritrea zurückkehrte, sah er, wie seine Landsleute, auch sein eigener Bruder, unter der Militärdiktatur litten. Alle Männer über 18 wurden versklavt oder zu jahrelangen Militärdiensten gezwungen. Er gab ein paar Bekannten seine italienische Nummer, sagte, "wenn ihr mal meine Hilfe braucht". Ab da hörte sein Telefon nicht mehr auf zu klingeln.

Seitdem schaltet Mussie Zerai sein Handy nie aus. Morgens gilt sein erster Blick dem Telefon. "Manchmal passiert es, dass ich einen Anruf verpasse, weil ich so tief schlafe", erzählt er mit sanfter Stimme. "Zu spät zurückzurufen, ist mein Albtraum." Er habe seine Stimme trainiert, erklärt er, sie muss beruhigend klingen. "Manchmal ist sie das Einzige, was ich den Flüchtlingen bieten kann."

Das Telefon in seiner Brusttasche vibriert. Auf dem Display blinkt die Nummer eines Satellitentelefons. Ein Flüchtling. "Hello?" Er hört zu, spricht dann minutenlang und ruhig auf Tigrinya, der Amtssprache von Eritrea. "Ein Eritreer aus einem Flüchtlingslager in Libyen", erklärt er dann. "Er sagt, er habe nichts zu essen, nichts zu trinken. Sie sind so viele, dass er sich nicht setzen kann."Mussie Zerai blickt zur Decke. Dann zeigt er auf den Raum, wo er gleich seinen Vortrag halten wird. "Nur die Politiker können wirklich etwas machen."

An einem Januartag im Jahr 2010 drangen fürchterliche Schreie aus seinem Telefon. Er ahnte sofort, da wird jemand gefoltert. "Aufhören", schrie er in den Hörer. Doch es hörte nicht auf. Mit gebrochener Stimme erklärte nach langen Minuten ein Mann auf Tigrinya, er sei auf der Flucht entführt worden. Und er bat um Lösegeld, um mehrere Zehntausend Euro, diktierte eine Bankverbindung. Sie führte nach Ägypten, auf die Sinai-Halbinsel. Zerai sammelte in seiner Kirchengemeinde Geld, sprach mit EU-Politikern, informierte Hilfsorganisationen. Er war einer der Ersten, der darüber berichtete, dass im Sinai Flüchtlinge gefoltert werden. Bis heute existieren die Folterkammern. 40 Menschen hat Zerai bisher freigekauft.

Besonders dramatisch war der Morgen des 27. März 2011. Zerai sah, dass er den Anruf von einem Satellitentelefon verschlafen hatte. Er rief sofort zurück. Ein Eritreer sagte, er sei mit 71 anderen Flüchtlingen auf einem zehn Meter langen Schlauchboot im Mittelmeer unterwegs, der Motor sei zu schwach für die schwere Last, der Tank bald leer. Mussie Zerai hörte durch das Telefon die Wellen, die gegen das Plastikboot schlugen. "Ich sagte, ich würde helfen. Ich versuchte, ihnen Hoffnung zu geben", erinnert er sich.

Er rief die Seenotrettung in Rom und gab die Nummer weiter – so, wie er es damals zu tun pflegte, weil er selbst noch nicht wusste, wie man die GPS-Daten aus dem Telefon lesen konnte. Die Seenotrettung rief die Nummer an, um die Position des Boots zu ermitteln, gab die Daten weiter, an alle Schiffe in der Umgebung des Boots. Am Nachmittag des 27. März wählte Mussie Zerai noch einmal die Nummer des Eritreers. Noch war keine Hilfe angekommen. Als er es am Abend wieder versuchte, war das Telefon aus.

In der folgenden Nacht klingelte Mussie Zerais Telefon mehrmals. Es waren Verwandte des Eritreers und von anderen Insassen des Boots, sie weinten, schrien ihn an, er möge etwas tun. Er versuchte, sie zu beruhigen. Nach jedem Gespräch betete er, um sich selbst zu beruhigen. "Es funktionierte nicht."

Zwei Wochen später rief ihn ein Passagier des Boots an und erzählte, was passiert war. Am Abend war das Boot in einen Sturm geraten, der Tank war da schon leer. Tagelang trieben sie dann im Meer. Die Passagiere aßen ein Gemisch aus Zahnpasta und Urin. Jeden Tag starben Menschen. Als das Boot nach zehn Tagen an der Küste Libyens angespült wurde, lebten noch elf. Einer von ihnen starb, kurz nachdem er von Land gegangen war, ein anderer in einem libyschen Gefängnis, wo er drei Tage lang nichts zu trinken und nichts zu essen bekam.
Der Überlebende erzählte auch, dass das Schlauchboot auf dem Meer dreimal Besuch vom Militär bekommen hatte. Ein Hubschrauber mit der Aufschrift "Army" näherte sich am Abend des 27. März, umkreiste das Boot, drehte wieder ab. Der Kapitän warf daraufhin das Satellitentelefon und den Kompass über Bord, niemand sollte ihn als Schlepper überführen. Stunden später kehrte der Hubschrauber zurück, jemand ließ an einem Seil ein paar Flaschen Wasser herab, ein paar Kekspackungen. Tage später begegnete das Schlauchboot einem Militärschiff. Die Flüchtlinge hielten die Leichen in die Luft, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Das Schiff näherte sich bis auf ein paar Meter, drehte wieder ab.

Der Fall wurde international bekannt als "Left-to-die-Boot", als das Boot, dessen Insassen dem Tod überlassen wurden. Mussie Zerai klagte mit Flüchtlingshilfsorganisationen in mehreren europäischen Staaten. Die Europäische Kommission erstellte einen Untersuchungsbericht. Alle Überlebenden bestätigten die Version des Mannes, der Mussie Zerai angerufen hatte. Verantwortliche sind bis heute nicht gefunden. Zerai wird immer noch wütend, wenn er von dem Fall erzählt. "Ich will den Menschen finden, der angeordnet hat, nicht zu helfen. Ich will ihm in die Augen schauen und ihn fragen, wieso er das gemacht hat."

Sein Bischof hat im Jahr 2011 einmal zu ihm gesagt, "Du bist nicht der Retter der Welt. Der Retter der Welt ist Jesus Christus." Zerai sagt: "Ich denke an diesen Satz, wenn mir das alles zu viel wird."

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